Reloaded – Vasen mit neuem Inhalt.
Keramische Skulpturen von Gerold Tusch
Als dem Briten Grayson Perry (*1960) für seine Keramikvasen 2003 der Turner-Preis für Moderne Kunst überreicht wurde, reagierte die Presse irritiert: „Kunsttöpfer“ nannte ihn Der Spiegel etwas unbeholfen; in der FAZ war schlicht die Rede vom „töpfernden Transvestiten“. Kunst und Keramik zusammen zu denken ohne wertend zu kategorisieren scheint seit jeher problematisch. Doch gerade die entwicklungsgeschichtlich bedingt eigene, oft isolierte Position der Keramik in der Kunst stellt für Künstler der Gegenwart einen spannenden Grenzbereich dar, den es auszuloten gilt. Jüngste internationale Ausstellungen und Publikationen wie „Breaking the Mould“ (2007), „Confrontational Ceramics“ (2008) und „Dirt on Delight: Impulses that form Clay“ (2009) zeigen, dass der Werkstoff Ton heute künstlerisch weit über seine herkömmliche Materialgeschichte hinaus genutzt und interpretiert wird, angefangen bei formalästhetischen Hinterfragungen bis hin zu radikalen gesellschaftskritischen Ansätzen.
Inhalte transportieren – Gefäße tun dies auch im übertragenen Sinne, man denke nur an Kleists zerbrochenen Krug. Ohne sie vom Sockel zu stoßen, wird gerade die Vase, als Urbild keramischer Gestaltung, zeitgenössischen Künstlern zum Vehikel: Perry etwa nutzt sie für autobiografische Aufzeichnungen, als Medium zwischen innerer Gefühls- und normierter Außenwelt. Von klassischer Gestalt und wirkungsvoller Oberfläche, tut sich, je näher man ihnen kommt, ein verstörender Kosmos voller Sex & Crime auf der Gefäßwandung auf, die ihm als Malgrund dient. Noch konkreter arbeitet die New Yorker Künstlerin Nicole Cherubini (*1970) mit der Form der Vase als „conceptual material“. Fragmentiert, re-kombiniert und zu einem expressiven Konglomerat unterschiedlicher Zitate aus der Keramikgeschichte und Populärkultur verbunden, sind ihre keramischen Assemblagen einerseits Reflexionen über Überfluss und Begierde, und dem Erlebnis der Leere andererseits. Die sexuelle Konnotation ist dem Gefäß auch hier immanent.
„Ton knetend formt man Gefäße. Doch erst ihr Hohlraum, das Nichts, ermöglicht die Füllung. (...) Das Sichtbare, das Seiende, gibt dem Werk die Form. Das Unsichtbare, das Nichts, gibt ihm Wesen und Sinn“ – so Lao Tse (6. Jh. v. chr.). Was aber geschieht, wenn das Gefäß sich aus seiner ursprünglichen Funktion befreit? Wenn es nicht länger Flüssigkeit oder Nahrung transportiert, wenn die Wandung Löcher bekommt? Was passiert, wenn auch die Symbolkraft der Dekoration, die einst dem Ritual huldigte und auf mythisch-religiöse Zusammenhänge verwies, als sinnentleerte Hohlformel zurückbleibt, und das Ornament nur noch sich selbst feiert? Kurz: Wenn das Gefäß sich emanzipiert, zum Ikon wird? Diese Fragen interessieren Gerold Tusch (*1969). „Die Kunst muss sich von der Vase distanzieren“ sagt er im Umkehrschluss. Ausgangspunkt hierfür ist die Auseinandersetzung: Auch im Werk des österreichischen Künstlers, der zunächst am Mozarteum in Salzburg Malerei und Keramik auf Lehramt studierte und anschließend an die Keramik-Abteilung der Gerrit Rietveld Academie nach Amsterdam wechselte, spielt die Vase eine zentrale Rolle. Auch für ihn ist Keramik das bevorzugte Material. Sich deswegen als Keramiker zu bezeichnen, wäre Koketterie meint er. Nicht weil er sich davon distanzieren will, im Gegenteil. Der Werkstoff komme seinem Ausdrucksbedürfnis am wesentlichsten entgegen, seine Weichheit und Feuchte, die er in Form und Glasur über den Brennvorgang hinaus zu retten versucht. Aber, und nun kokettiert er doch ein wenig, Keramik sei etwas für „starke Persönlichkeiten“, da man sich ihr gegenüber durchsetzen müsse, biete sie doch so vieles an. „Ja, ich mache Keramik, ja ich mache Vasen. Und ich fürchte mich gar nicht davor“ – so sein Bekenntnis.
Die Scheibe habe er für sich ausgeschlossen, zu schnell sei sie, ihre Zentrifugalkräfte einem Fliegengewicht wie ihm nicht geheuer. Er schätzt die Langsamkeit der Aufbau- und Plattentechnik: geklopft, geschabt, geglättet, dann trocknen lassen und brennen, alles im eigenen Atelier, im eigenen Ofen. Die langsame Abfolge handwerklicher Tätigkeiten gebe seinem Denken Raum, einzig in der Keramik könne er geduldig sein, so Tusch. Das muss er auch. 3-4 Wochen dauert die Arbeit an einer Vase. Ihr voraus geht die Zeichnung. Sie ist wichtiger Bestandteil seiner Arbeit, hilft ihm zur Klärung von Kompositions- und Proportionsfragen – „eine Möglichkeit, mit dem Stift zu Denken“ nennt er sie. Manche Zeichnungen sind schnell skizzierte „Ideenspeicher“. Andere gehen relativ weit ins Detail, sehen aus wie Entwürfe vom Reißbrett, nach denen die Gefäße „sehr streng“ ausgeführt werden. Nicht immer jedoch ist Tusch so kontrolliert. Häufiger versucht er die Grenzen auszuweiten, seine Gefäße mehr wachsen und gewisse Zufälligkeiten zuzulassen – Formwerdung und Formauflösung im Sinne des Informel.
Neben den Zeichnungen sind Tusch auch Fotografien historischer Gefäße eine Inspirationsquelle. Vor 15 Jahren kam das Thema Vase in sein Werk. Quasi im Vorübergehen wurde sie ihm vertraut, in den Schöpfungen des Bildhauers und Architekten Fischer von Erlach (1656-1723) gleich um die Ecke. Seither archiviert er mit zunehmend wissenschaftlichem Interesse Vasen alle Art und Epochen und filtert das für ihn Relevante heraus: Amphoren, Urnen, Altar- und Parkvasen, aber auch Groteskenmalerei oder Dekorelemente des Interieurs wie Stuckaturen oder Schnitzwerk. Vor allem jene repräsentativen Prunkvasen des Barock und Rokoko, die in ihrer Opulenz aus purer Lust heraus gebaut zu sein scheinen, haben es ihm angetan. „Ich versuche Objekte ausfindig zu machen, in denen praktische und dekorative Funktion ursprünglich kombiniert waren. Plötzlich aber begann die Funktionalität hinter der dekorativen Erscheinung der Objekte zu verschwinden und sie emanzipierten sich in formalen Eskapaden.“
Die reiche Mustersammlung dient jedoch nicht als »Vorlagenwerk«. Tusch bezeichnet sie als „unterbewusste Vorstellungswelt“, als „Zuwachs im Wortschatz“. Aus Kenntnis der Dinge entwickelt er ein eigenes Repertoire. „Übersetzung ist das Ziel!“ Nicht um Produktion von Vasen im Sinne der Funktion geht es Tusch, sondern um Neuinterpretation im Sinne ihrer Abbildung. "Das Ab-Bild einer Vase" (1995) heißt programmatisch eine der ersten skulpturalen Gefäße dieser Art. Mittig in zwei Teile geschnitten, das Innere aus dem entstandenen Spalt hervorquellend: Hier wird nicht nur die formale Gestalt der Vase dekonstruiert. Auch in seiner Funktion erfährt das Gefäß eine De-Kontextualisierung. Ein klarer Cut, der sich im Folgenden gedanklich weitervollzieht und gestalterisch seinen Fortgang findet. Einmal freigesetzt, erobert der Inhalt das Gefäß, einst Fülle festoniert er nun die Hülle, wird zum plastischen Dekor. Vegetabil anmutende Formen, die aus den Vasen hervordrängen, an der Wandung herabtropfen oder dort weiterzuwuchern scheinen, wecken Assoziationen an Samen, Früchte und Blüten, an Milch, Wein und Honig, und damit an die ursprüngliche Aufgabe der Vase als Speichergefäß. Fruchtbarkeit, Reichtum und Überfluss: Tuschs skulpturale Gefäße gleichen umgestülpten Füllhörnern.
Fleischig und Inkarnatfarben zeigen sich die Arbeiten der Serie „Vase, sich im Dekorum auflösend“. Von geradezu ekstatischer Gestalt und hemmungslos schwelgend im Ausdruck, gehen sie weit über die Idee des Gebrauchs hinaus hin zu einer Auseinandersetzung über Dekoration, Fest und Ausschweifung. Das Gitterwerk markiert dabei einerseits die Grenze. Gleichzeitig steht es für Durchdringung. Ein Thema das Tusch auch in seinen installativen Wandarbeiten „home & garden“, „Grott-eske“ oder „prendre l’air“ aufgreift. Neben das keramische Objekt treten hier luftige Holzgitter, Treillagen, wie sie im barocken Lustgarten Architektur und Pflanze miteinander verschmolzen und den Naturraum zur Irrealität einer Bühnendekoration steigerten. Statt Rosen und Schlingpflanzen docken bei Tusch riesige Keramikschalen an der Scheinarchitektur an, aus deren weiten Öffnungen es absonderlich schäumt und pulsiert, als ob Mischwesen daraus geboren würden. Das Aufbrechen der Grenzen von Innenraum und Außenraum, von Natur und Kultur, Mensch, Pflanze und Gegenstand hebt Klassifizierungen auf und verleiht den Objekten in grotesker Verzerrung Zeichencharakter über das Alltägliche und Natürliche hinaus. Auch die Vasen „pad & paddy“ können in diesem Zusammenhang betrachtet werden. Die Polster ihrer an die Schokoladenblume erinnernden knospen- und blütenförmigen Dekoration, verweisen in den Bereich des Interieurs. Und doch wirken sie wie riesenhafte Pollen, die darauf warten, bestäubt zu werden: „to pad“, engl. für aufpolstern, füllen, ausschmücken.
„Schwarze Arabeske“ heißt eine andere Arbeit: ein schwungvoller Schnörkel, Ornament in Reinform und Inbegriff von Eleganz. Angezogen von ihrer dunklen Schönheit nehmen wir sie erst spät war, die petrolfarbene Sekretion an den triebartigen Auswüchsen der Hauptlinie. Nektar oder toxische Substanz? Sinnenfreude oder Siechtum? Das changierende Schillern der Glasur hält uns gefangen im ambivalenten Gefühl. Ähnlich geht es uns mit jenen Skulpturen aus Terra sigillata. Düster, wehrhaft und abweisend wirken sie. Und doch geht eine fast magnetische Kraftwirkung von ihnen aus. Das Monströse, Abstoßende steht für Tusch gleichberechtigt neben jenen Qualitäten, die wir als attraktiv empfinden, nicht nur im visuellen, sondern auch im taktilen Sinne: Matt und glänzend, samtig und stumpf, Wölbungen und Kurven, denen wir nachspüren und die jähe Senke, auch sie ein unheimlicher Reiz. Autonome Objekte im Spannungsfeld zwischen kunsthistorischem Zitat, künstlerischer Übersetzung und bizarrer Übersteigerung sind auch jene Arbeiten, die Tusch 2008 während seiner Zeit als Artist in Residence am European Ceramic Workcentre (EKWC) in ‘s-Hertogenbosch realisierte. „Love me Tender“ und „Le coffre du Dick“ lauten mehrdeutig ihre Titel. Historisches Vorbild hierfür waren Tusch Rokokokonsolen, Seitentischchen für Vasen, deren Funktion einzig in ihrer dekorativen Anwesenheit und Gebundenheit an die zu repräsentierenden Vasen und Pflanzenarrangements bestand. In ihre skulpturale Objekthaftigkeit zurückgeführt, entlässt Tusch die vermeintlichen Kleinmöbel wie auch die Vasen ins freie Feld der Kunst, wo sie weder schön noch gefällig sein müssen. Und doch wollen sie unsere Aufmerksamkeit. Mit ihrem konzeptionellen Charakter fordern sie uns auf zur Analyse von Wesen und Sinn der Dekoration und Repräsentation, lassen uns reflektieren über Form und Inhalt, und eröffnen uns das Unsichtbare.
Susanne Längle, 2010