In einem Spannungsfeld aus Abstraktion und Erzählung bewegen sich die plastischen Arbeiten von Gerold Tusch. Die vermeintliche Lesbarkeit und Erkennbarkeit auf den ersten Blick erweist sich allerdings als Illusion; nicht eine formvollendete Vase, ein geschwungenes Rankenornament, eine silbrig glänzende Wolke bieten sich dem Betrachter dar, sondern wohl ausgesuchte Details aus einem größeren Gedankenzusammenhang manifestieren sich in den sichtbaren Formen. Tusch sieht Detailformen, seziert in sich geschlossene Sub-Formen heraus, isoliert einen formalen Nukleus aus einem Großen & Ganzen - sein Blick reagiert seismografisch auf stringente Energiekonzentrationen und lässt die Folie, das Umgebende weg. Er überantwortet damit seinen Formen die gesamte narrative Kompetenz, da er ihnen das Ausgebreitete einer inhaltlichen Schilderung verweigert. Seine "Silberwölkchen" erzählen von der Leichtigkeit des Rokoko, von der immaterialität eines Himmelgebildes, von der Aureole einer Erscheinung und gleichzeitig von der Leere im Zentrum, von den Potentialen des Möglichen, der potenziellen gedanklichen Assoziation. Seine "Festons", "Frames", Girlanden und Knospenformen konzentrieren in sich die Darstellung von Körperfragmenten mit erotischen Konnotationen, mit sublimen Hinweisen auf sexuell aufgeladene Schwellungen und pralle Rundungen und sind dennoch in einer Sphäre der Andeutung, der Mehrdeutigkeit angesiedelt. Was nicht ausformuliert wird, ist der Gedankenwelt des Künstlers, des Betrachters überlassen - die sinnliche Formensprache, die super-artikulierte Präsenz der Volumina, die geahnten Hohl- und Innenräume führen in die richtige Richtung, öffenen ein weites, magisch-verführerisches Terrain, in dem das Nicht-Ausformulierte das Eigentliche ist.
Nun also Laokoon. Die Erzählung über den trojanischen Prieser und seine Söhne war in der Antike, in der Renaissance seit der Auffindung der Skulpturengruppe nahe von Neros "Domus Aurea" auf dem Esquilin, das stärkste Bild über den Tod. So ist auch seit dem Historismus jeder immer wieder neu ansetzende Interpretations- und Deutungsansatz auf die Darstellung von Schmerz, Gewalt und den tödlichen Kampf zwischen Mensch und Schlange fokussiert. Gerold Tusch lässt genau diesen kunsthistorischen Background weg und konzentriert sich auf die beiden Schlangen. Er versälbständigt diese Wunderwerke an Energie, Kraft, Flexibilität, Gewalt, Schönheit aus dem historisch-narrativen Zusammenhang und erlaubt ihnen ein reines Dasein in ihrer formalen Präsenz, in ihrem schieren Gewicht, ihrer sinnlich-erfarbaren Oberfläche.
Immer agiert Tusch entlang der Kunstgeschichte, immer ist er jedoch der große Liebhaber der Fehlstellen, der Auslassungen. Er isoliert Formen wie Voluten, Rocaillen, Rosetten, Vasen aus dem Dekorzusammenhang und verleiht ihnen plastische Authentizität. Sein Weg ist der des Zitierens, Aneignens, Weiterentwickelns und Neu-Deutens, indem er konzentriert und komprimiert - und das Wesentliche aus einem breit angelegten Hintergrund heraus formuliert. In den Schlangen des Laokoon sind genau die Biegungen und Windungen der mächtigen Würgetiere beibehalten, die sich im Umschlingen der drei Menschen vorführen, deren Ort und Abwehrbewegung sind jedoch weggelassen: die beiden Schlangen sind die alleinigen Protagonisten.
Mit dieser monumentalen Gruppe erweitert Gerold Tusch sein formales Repertoire um eine Charakteristik, die seinem Werkstoff, Keramik, immanent ist und bisher nicht explizit aufgetreten ist: das Biegsame des Materials, die Felxibilität des Formens und Formulierens, die autonome Gestaltbarkeit der Oberfläche und die sich beinahe verselbständigende Spezifik eines Materials, das sich erst in mehreren Arbeitsschritten aus einzelnen Teilen zu einem Ganzen konstituiert. Hier erweist sich die abstrakt definierte formale Problematik und deren Symptomatik als intentional bedeutsam und das Objekt kann sich von der ursprünglichen ikonologischen Erzählung gänzlich emanzipieren, beziehungsweise diese als camouflierte Kern-Erzählung völlig autonom artikulieren. Die Schlangen des Laokoon, das "Infinitum" einer plastischen figura serpentinata, stehen für dieses Spannungsfeld zwischen reiner, kristalliner, abstrakter Form und dem Abbild, welches sich - fern jeder zoologischen Spezieszuordnung - als bedeutsames Fragment und inhaltlicher Sukkus einer in sich wahren visuellen Erzähltradition versteht.
Margit Zuckriegl, 2019