Eleganter Missbrauch
Die Anverwandlung von Materialien und Gesten an andere, ungewöhnliche Erscheinungsweisen ist die Grundkonzeption von Gerold Tuschs künstlerischer Praxis. Er visiert das etwas abgegriffene Genre des Kunsthandwerks, der Keramik, der Dekoration an und entführt deren Gesetze und Potenziale in gänzlich anders definierte Zusammenhänge. Wie in einem Prozess der Befreiung erlangen Formen und Formationen, die gleichsam immer einen Nebenschauplatz der Kunstgeschichte eingenommen haben, eine gesteigerte, akute Aufmerksamkeit. Die Diskrepanz zwischen ihrer Genese und ihrer Emanzipation lässt ein Schwanken zwischen Missbehagen und Schwelgerei beim Betrachter entstehen: geraubte, missbrauchte Formen wie Rocaillen, Arabesken, Pokal- und Vasentypen, bezaubernder Nippes und romantischer Schnick-Schnack erobern sich unter neuen Vorzeichen neue Daseinsräume. Dadurch, dass sie aus dem Zusammenhang der sklavischen Dekoration, der gefälligen Dienstfertigkeit entlassen wurden, erreichen sie eine unerwartete und erstaunliche innere Monumentalität und eine widersprüchliche Eigenständigkeit. Diese irritierende Präsenz kontrastiert mit der scheinbar so harmlosen Eleganz der formalen Virtuosität: porzellanähnliche Schnörkelmuster überziehen ganze Wandflächen, zierliche Schmuckobjekte überraschen mit zweideutigen Konnotationen - hat diese Vasenform nicht etwas Phallisches, dieses Döschenpaar nicht etwas Weiblich-Erotisches?
Was zunächst als besonders schön, harmonisch, elegant wahrgenommen wird, erweist sich im Näherkommen als dreister Missbrauch: die glatten Oberflächen, die silbernen Wölkchenformen, die ornamental geschwungenen Rankenlinien, die üppigen Vasenkörper und prallen Blumenkapseln, die gestülpten Hohlräume und Falten verbergen nur notdürftig ihre Ähnlichkeit zu lasziven und sexuell aufgeladenen Formen. Der Fundus für die Formappropriationen von Gerold Tusch sind die Untiefen der Kunstgeschichte, an deren seichten Rändern die Grotesken und Kartuschen, das Knorpel- und Rankenwerk ausgiebig wuchert. Sein Bezugspunkt sind die dekorwütigen Phasen wie Rokoko und Historismus; nicht zu übersehen ist allerdings seine Begeisterung für das gotische Maßwerk und die mittelalterliche Buchmalerei, die damals ganz im Verborgenen - das Verdikt der Kirche listig und lüstern umschiffend - erotische Szenen und burleske Anspielungen in die reiche Ausstattung der Inkunabeln, Altäre und Fensterrahmungen integrierten.
Gerold Tusch führt einen Gestus der Aneignung vor, der sich allerdings im Prozess seiner künstlerischen Praxis mit dem ironischen Potenzial einer gezielt missbräuchlichen Verwendung paart. Es bleibt nicht einfach bei der Isolation von Formen aus deren Kontext und der Neuadaptierung in anderen Zusammenhängen. Während sich Tusch mit Aufmerksamkeit und durchleuchtendem Blick einem Dekorationsteil- oder stil zuwendet, findet schon die Anverwandlung statt, eine Transformation, die gleichermaßen entlarvend und unterhaltend vorgeht und deren Ergebnisse den Betrachter durch den Bruch zwischen eleganter Erscheinung und zweideutiger Anspielung düpieren.
Margit Zuckriegl
Katalogtext in "European Triennial of Small-Scale Sculpture - joke, satire, irony and serious meaning", Maribor 2007