Luxus in Zeiten von Safer Sex
I
In seiner berühmt-berüchtigten Polemik Ornament und verbrechen von 1908 versuchte der Wiener Architekt Adolf Loos dem schmucklosen Design und der reinen, ohne Bauplastik auskommenden Architektur der Moderne ein theoretisches Fundament zu geben. Loos, der seine Prägung durch einen mehrjährigen USA-Aufenthalt erhalten hatte, führte gegen das Ornament weniger ästhetische als evolutionäre, soziale, ökonomische und metaphysische Argumente ins Treffen. Die puritanische Maxime „cleanliness is next to godliness“ hatte Loos ebenso sehr verinnerlicht wie das Nützlichkeits- und Profitdenken des Kapitalismus calvinistisch-angelsächsischer Prägung. Diese erscheinen aber bei ihm in einem – typisch für die frühe Moderne – sozialistischen Gewand: Nicht der Kapitalist, der Arbeiter ist es, der von den durch den Ornamentverzicht gesunkenen Stückkosten profitiert. „Der ornamentiker muß zwanzig stunden arbeiten, um das einkommen eines modernen arbeiters zu erreichen, der acht stunden arbeitet. Das ornament verteuert in der regel den gegenstand, trotzdem kommt es vor, daß ein ornamentierter gegenstand bei gleichem materialpreis und nachweislich dreimal längerer arbeitszeit um den halben preis angeboten wird, den ein glatter gegenstand kostet. Das fehlen des ornaments hat eine verkürzung der arbeitszeit und eine erhöhung des lohnes zur folge. Der chinesische schnitzer arbeitet sechzehn stunden, der amerikanische arbeiter acht. Wenn ich für eine glatte dose so viel zahle wie für eine ornamentierte, gehört die differenz an arbeitszeit dem arbeiter.“ Daraus folgt: „evolution der kultur ist gleichbedeutend mit dem entfernen des ornamentes aus dem gebrauchsgegenstande.“1
Allerdings hatte Loos einen entscheidenden Punkt ausgeklammert: Die Preise für handgemachte und -verzierte Objekte waren vor allem deshalb so niedrig, weil sie sonst mit den industriell hergestellten nicht hätten konkurrieren können. Vor der Industriellen Revolution war das Kunsthandwerk durchaus ein blühendes Gewerbe gewesen, und handbemaltes Porzellan, intarsienverzierte Möbel, stuckierte Deckengewölbe zählten im Ancien Régime zu den absoluten Luxusgütern, die damals Unsummen verschlangen, auch wenn die Stundenlöhne vergleichsweise um vieles niedriger waren als um 1900 oder gar heute. Denn das Ornament diente nichts anderem als dem Prestige seines Besitzers – im lateinischen „ornatus“ (= geehrt, rühmlich, geschmackvoll, Schmuck, schönes Äußeres) ist dieser Konnex von Schmuck und Ruhm noch deutlich. Die vordergründig sinnlose Verschwendung von Arbeitskraft, Kapital und Material folgte einer Logik, die einem puritanischen Utilitaristen vom Schlage eines Loos prinzipiell fremd bleiben musste. Der surrealistische Autor Georges Bataille ging hier – im Anschluss an die ethnologischen Untersuchungen von Marcel Mauss und Claude Lévi-Strauss – so weit, Luxusgüter generell unter dem Aspekt der Vernichtung zu sehen, auch wenn sie nicht, wie bei rituellen Tauschzeremonien in archaischen Gesellschaften, direkt zerstört werden: „Die Produktion von Luxusartikeln, deren wirklicher Sinn in der Ehre dessen liegt, der sie besitzt, sie empfängt oder verschenkt, stellt übrigens selbst eine Destruktion nützlicher Arbeit dar (den Gegensatz zum Kapitalismus, der die Arbeitserträge für die Herstellung neuer Produkte akkumuliert)...“2 Bataille stellte diese Überlegungen im Zusammenhang seines Essays über die Erotik, die er u.a. als – der Religion verwandtes – Phänomen der Entgrenzung begriff, als „Jasagen zum Leben bis in den Tod“3 , der den Abgrund zwischen den Individuen ebenso überbrückt wie der Sex. Luxus ist demnach erotischer Exzess pur (und Geiz deshalb alles andere als geil).
II
Wirtschaftliche Potenz und sexuelle Attraktivität hängen bekanntlich zusammen, und so ist es kein Wunder, dass besonders das im hochkulturellen Kontext auftauchende Ornament – das Ornament im Dienst der High Society, also der „ornati“, der „Geehrten und Gerühmten“ – oft reichlich sexualisiert ist. Es würde hier zu weit führen, die Zusammenhänge zwischen dem hochkulturellen Ornament der Kunstgeschichte und der Erotik in extenso auszubreiten – angefangen von den nackten Putten, barbusigen Sphingen und überquellenden Füllhörnern, den sadomasochistischen Szenen, die in manieristischen Ornamentgrotesken und Beschlagwerken auftauchen, über das assoziationsreich zwischen allerlei molluskenhaftem Seegetier und menschlichen Körperöffnungen changierenden Ohrmuschelstil des Barock bis hin zu den nicht minder zweideutigen Rocaillen des Rokoko und den lasziven Schlingpflanzen-, Frauenhaar- und Peitschenschnurlinien des Jugendstils. Es wäre jedoch ein Irrtum zu glauben, dass mit der Entfernung des Ornaments aus dem Gebrauchsgegenstand auch die Erotik aus ihm vertrieben worden wäre. Die Designer des 20. Jahrhunderts haben es verstanden, mit organisch-anschmiegsamen Formen (man denke nur an die weibliche Silhouette der Colaflasche), makellos glatten, wie Lack & Leder glänzenden Oberflächen (geliebter Fetisch aller samstäglich polierenden Autobesitzer) und neuartigen haut- und körperähnlichen Materialien (Kunststoffe, Schaumstoffe, Polyester etc.), die Konsumenten nicht minder wirkungsvoll zu verführen. Es handelt sich beim Produktdesign seit dem Bauhaus allerdings meist um eine sehr saubere und keimfreie Erotik, die durch das Hygienebad der modernen puristischen Form gegangen ist und die vom Exzess und der Dialektik von Wollust und Ekel, Liebe und Grausamkeit, Sex und Tod nichts mehr weiß (diese Themen werden dafür umso intensiver von der freien Kunst abgehandelt).
III
Auch lange nach der Industriellen Revolution verharrten die meisten Künstler in den vorindustriellen Bedingungen des Handwerks. Ein Gemälde oder eine Skulptur war nun nicht nur wegen seines bzw. ihres – irrationalen – künstlerischen Wertes ein Luxusgut, sondern bereits wegen der Arbeitszeit, die darin investiert worden war. Erst die impressionistische Schnellmalerei, die konzeptuelle Objektkunst (objet trouvé, Readymade) und schließlich apparative Verfahren wie Fotografie und Video haben die künstlerische Arbeitsweise wieder zur (post-)industriellen Produktionsform aufschließen lassen. Es gibt allerdings auch heute noch Künstler, die sich diesem Beschleunigungsprozess widersetzen, die ganz bewusst extrem langwierige und aufwändige Arbeitsmethoden wählen und die erst in dieser anachronistischen Aufreibung ihrer Ressourcen eine persönliche Befriedigung erfahren. Zu diesen gehört Gerold Tusch. Schon die Wahl der Technik – Keramik – mutet für einen zeitgenössischen Künstler anachronistisch an, und umso mehr ist es seine am barocken Ausstattungsapparat orientierte Ikonografie und Formensprache: Prunkvasen, Spiegelrahmen, Zierreliefs in Form von Wolken, Voluten und vegetabilen Elementen usw. Dem ornamentalen Aufwand entspricht der technische: Die äußerst fragilen und dabei ziemlich schweren, raumgreifenden Objekte müssen in behutsamer Planung aus vielen Einzelteilen zusammengesetzt werden; jeder Fehler bei Modellierung oder Brand kann Wochen von Arbeitszeit zunichte machen. Kein Zweifel: Aus irgendwelchen Kunststoffen ließen sich Tuschs Objekte wesentlich zeitsparender herstellen, zumal der Künstler auf spezifische keramische Eigenschaften wie etwa eine malerisch changierende Glasur bewusst verzichtet. Warum also dieser Aufwand?
Betrachtet man Tuschs Objekte genauer, so ist es in der Regel mehr die formale Grammatik, weniger das Vokabular, das an den überladenen Dekor des Barock erinnert. Was hier z.B. üppig aus den Prunkvasen (2001–04) quillt, sind weniger traditionelle Frucht- und Blumengebinde als seltsame Formationen, die irgendwo zwischen den wirbellosen Wassertieren aus Haeckels Kunstformen der Natur4 und in Wurstform transformierten Säugetieren angesiedelt sind, oft ausgestattet mit Saugnäpfen, Schwellkörpern, Lippen und Drüsen, um Körperflüssigkeiten auszutauschen, einzudringen, aufzunehmen, zu verdauen und auszuscheiden und dabei vor der Vase selbst nicht halt zu machen (Vase, sich im Dekorum auflösend I–III, 2002–05). Die sexuelle Bedeutung wird aber nur selten explizit, sie bleibt sozusagen immer unter der gefällig glänzenden, meist fleischfarbenen Glasur verborgen, um zugleich in einer fortwährenden Mimikry alles zu erfassen. Der formale Überschuss, die erotisierte Üppigkeit des Dekors, die jeder funktionalen Sinngebung spottet, korrespondiert mit der Verschwendung der in sie investierten Arbeitszeit. Hier ist ein Maximalismus am Werk, der keine Sekunde daran denkt, mit möglichst geringem Einsatz einen möglichst großen Ertrag zu erzielen. Die meisten Objekte sind auch modelliert, nicht gegossen, und deshalb Unikate. Luxus auf allen Ebenen.
IV
Keramik zählt seit der Industriellen Revolution zum Kunsthandwerk bzw. zu den angewandten Künsten. Manche Keramiker haben im Laufe des 20. Jahrhunderts versucht, in den Bereich der Skulptur oder Objektkunst vorzudringen, um ihr etwas hausbackenes Kunsthandwerkerimage abzustreifen. Andere – und zu ihnen zählt Gerold Tusch – gehen den umgekehrten Weg und radikalisieren bestimmte Aspekte der keramischen Tradition: In seinem Fall ist es die Herstellung von Ziergefäßen, Tafelschmuck und Nippes, Dingen also, die alle der großen Tempelreinigung der Moderne zum Opfer fielen und seither – wie Ornament nach der Industriellen Revolution generell – als Kitsch gelten und auch meist nur mehr in den verachteten Zonen neureicher bis kleinbürgerlicher Ausstattungskultur zu finden sind. Seit den achtziger Jahren (man denke etwa an Jeff Koons oder Wim Delvoye) ist Kitsch in der Kunst allerdings kein Tabu mehr. Der Weg der Popart führte in Richtung Postmoderne, man lernte von Las Vegas5 (wenn nicht gar von Michael Jacksons Neverland Farm). Während seines Studiums im calvinistischen Holland (neben England das Geburtsland der kapitalistischen Moderne) entdeckte Tusch das katholische Barock seiner Heimat wieder und fand darin eine spezifische Form, Lust und Transzendenz auf eine proto-surrealistische Weise zu kombinieren. An den sich über die Wand schlängelnden Spermien (Genesis, 1995) und den versilberten Wölkchen, die, wie Tusch verrät, schon im barocken Kirchenstuck gerne wie Kuhfladen aussehen und auf denen eine Teresa von Avila ihre Ekstasen haben könnte (Gloria, 2003), hätte Georges Bataille seine Freude gehabt.
Wollte man die historischen Referenzen von Tuschs Formenrepertoire aber präzise bestimmen, so ist es das gemeinhin als leichter und frivoler als das Barock geltende Rokoko mit seinen asymmetrischen C-Bögen, Flechtwerkmustern und Blumenarrangements, das ihn neuerdings besonders interessiert, d.h. eigentlich die Rokoko-Rezeption in den 1950er Jahren, dem Heile-Welt-Jahrzehnt der Sissi-Filme, als das Rokoko zu einer zuckersüßen pastellfarbenen Harmlosigkeit mutierte. Insofern lässt sich Tuschs Arbeit durchaus im Kontext der aktuellen Modernismuskritik lesen. Erkennbar ist dies nicht nur an spezifischen Designmerkmalen der Fünfziger, die Tusch zitiert, wie den gepolsterten Wandbespannungen (fifties wardrobe, 2005; frames I–IV, 2004–05) oder der Vorliebe für Rosa und Pistaziengrün, sondern vor allem auch in einer wesentlichen Abweichung vom Rokoko-Ornament: dem Verzicht auf die namengebende Rocaille. Die Rocaille, ein vieldeutiges Mischwesen aus Muschel, Koralle, Felsen und Pflanze, immer malerisch ausgefranst und zu jeder Metamorphose fähig, lässt sich nur mit einer sehr malerischen skulpturalen Technik umsetzen. Genau das musste aber von einem modernistischen Jahrzehnt wie den Fünfzigern ausgeklammert werden, und aus demselben Ansatz, der auf die modernistisch glatte, aseptisch saubere und geschlossene Form setzt, geht Tusch der Rocaille aus dem Weg. Sein Handwerk ist durch das Produktdesign ohne persönliche Handschrift, durch Pop und Serialität hindurchgegangen und reflektiert diese Entwicklung auf hohem Niveau. Das hindert ihn aber nicht daran, die in den Fünfzigern nach Möglichkeit unterdrückte oder zumindest infantilisierte Erotik im Ornament wieder freizusetzen. Aber es ist eine Erotik ohne sichtbaren Schmutz und drohendes Verhängnis, adäquat den Zeiten von safer sex.
Anselm Wagner, 2005
1 Adolf Loos, Ornament und verbrechen (1908), in: ders., Sämtliche Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, Ins Leere gesprochen 1897–1900, Trotzdem 1900–1930. Hg. v. Franz Glück. Wien–München 1962, S. 276–288, hier S. 282 und 277
2 Georges Bataille, Die Erotik. Neuübersetzt und mit einem Essay versehen von Gerd Bergfleth, München 1994, S. 202 (L’érotisme, Paris 1957)
3 Ebd., S. 13
4 Ernst Haeckel, Kunstformen der Natur, Neudruck der Erstausgabe München 1998 (Leipzig–Wien 1904); ein Buch, mit dem sich Gerold Tusch intensiv befasst hat.
5 Vgl. Robert Venturi / Denise Scott Brown / Steven Izenour, Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt (Bauwelt-Fundamente Bd. 53), 2. Aufl., 2. unveränd. Nachdr., Basel u.a. 2003 (Learning from Las Vegas. The forgotten symbolism of architectural form, Cambridge/MA 1972)